Donnerstag, 31. Juli 2003


Die Nacht war sehr unruhig. Regen und Sturmböen wechselten sich ab oder gingen sogar gemeinsam auf das Zelt los. Einmal kroch ich in T-Shirt, Unterhose und Sandalen raus, um die Heringe mit Steinen zu beschweren. Gegen sieben beschließe ich, daß es nicht mehr besser wird und ich ebensogut frühstücken und dann zusammenpacken kann. Als ich gerade die Heringe des Überzeltes auf einer Seite gelöst habe, drückt eine Böe das Zelt zu Boden, ein häßliches Knacken ist zu hören, ich schreie etwas, "Scheiße!" oder "Nein!", auf jeden Fall laut, und werfe mich auf die flatternde Ruine, um sie wenigstens am Wegfliegen zu hindern. Drei Segmente sind gebrochen, eines arg verbogen und im Überzelt klafft ein armlanger Riß. Blöde Böe! Eine halbe Minute später, und das Zelt wäre heile geblieben.

Ich beschwere die Einzelteile mit allen Steinen, die ich bäuchlings auf dem Zelt liegend erreichen kann. Die Bruchstücke des Gestänges werden noch durch ein sie verbindendes Gummiband zusammengehalten. Ohne sie wie sonst zusammenzulegen, stopfe ich Innen- und Außenzelt in den Sack und versuche mich zu beruhigen. Ich habe kein Zelt mehr, zumindest kein brauchbares. Kein Zuhause hier draußen, keinen Schutz vor dem Wetter, keinen Unterschlupf, keine Geborgenheit. Ohne Zelt kann ich mich nicht machts vor dem Regen schützen und somit nicht vor der Kälte, denn der Schlafsack wäre naß nutzlos. Aber die Panik legt sich bald wieder. Bleib ruhig! sage ich mir selber. Denk nach. Finde eine Lösung. Schon während des Zusammenpackens wäge ich bereits Alternativen ab. Bis zur Hütte von Nýidalur sind es noch zwei Tagesetappen, die ich aber notfalls an einem zurücklegen könnte. Entweder auf der üblichen Strecke, von der mich seit gestern zwar einige Kilometer trennen, auf der ich mit etwas Glück aber einen Wagen anhalten könnte. Oder auf dem geplanten Weg, der zwar kürzer ist, auf dem mir aber mit Sicherheit kein Wagen und wahrscheinlich keine Menschenseele begegnen wird. Garantieren kann mir das auf der längeren Strecke aber auch niemand. Außerdem kann ich mich immer noch in den Zeltstoff einrollen, um mich vor dem Wetter zu schützen. Das ist sicher nicht sehr bequem, aber in einer direkten Notsituation befinde ich mich nicht. So oder so, ich komme nach Nýidalur, und dort kann ich dann das Zelt reparieren oder notfalls in der Hütte schlafen. Noch immer fluchend, aber schon wesentlich ruhiger, entscheide ich mich dafür, den bereits eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Diesmal ohne Plastiktüten und Socken mache ich mich mit Sandalen ans Furten des nur knöcheltiefen Stackfellslækur und gelange problemlos hinüber.

Das erste Stück geht sehr rasch. Nachdem die Piste rechts des Valafell an Höhe gewonnen hat, verliert sich die Spur allerdings rasch im Geröll. Von oben sind Fahrzeugspuren im schwarzen Sand des Tals vor mir zu sehen. Ich halte darauf zu und gelange so wieder auf die Piste am Gjóstukliff - oder eher kurze Abschnitte von verschiedenen Pisten. Der Abstieg gelingt gut und auch die Überquerung der Wasserarme ist problemlos. Erst nachdem ich einen flachen Geröllberg umrundet habe, muß ich einen ernstzunehmenden Gletscherfluß furten, was nicht ohne Sandalen und Platiktüten möglich ist. Das Fiese an dem milchigen Wasser ist, daß man nicht sieht, wie tief es wirklich ist. Aber ich habe Glück. An dieser Stelle ist der Fluß nicht tief, er tut nur so.

Danach scheinen Karte und Landschaftsbild nicht übereinzustimmen. Ich sehe zwar den markanten Dellir, aber davor erstreckt sich auf ganzer Breite ein Höhenrücken, der nicht da sein sollte. Beim Überqueren sind immer wieder Caņons im Weg, die mich zum Ausweichen hangaufwärts zwingen. In einem kleinen Seitental wuchert Quellmoos in unglaublicher Menge. Wassertropfen liegen glitzernd auf den grünen Polstern. Trotz des trüben Wetters packe ich die Camera aus und veranstalte eine kleine Fotoorgie. Doch dann öffnet sich endlich der Blick auf Grün und Flußarme und auch Reifenspuren tauchen wieder auf (sogar Hufabdrücke glaube ich stellenweise auszumachen). Das Snapadalur liegt vor mir.

Ich halte mich jedoch nicht lange auf, sondern versuche, auf möglichst direktem Weg zum Paß am Göngubrún zu gelangen. Dazu erklimme ich einen Hang, sehe aber, nachdem ich schon relativ hoch bin, links wieder einen Caņon, der zu steile Wände hat, um ihn zu durchqueren. Weiter oben wird er schon flacher werden, rede ich mir ein, weil ich keine Lust habe, wieder hinabzuklettern. Doch es ist wie verhext. Bald mündet auch noch von rechts ein weitere Bach in den Caņon (nicht auf der Karte) und zwingt mich zu einem Bogen. Dann sehe ich am Ufer Dampf aufsteigen. Der ohnehin schon weiche Boden klebte, gut durchgekocht, an Sohlen und Stöcken. Wo der Caņon endete, ist ein Talkessel von vielleicht 30m Durchmesser, dampfend, mit kochenden Quellen und farbigen Ablagerungen. Da ich nur wenig Lust verspüre, bei dem Versuch einer Durchquerung einzusinken oder einzubrechen und dann im kochenden Wasser zu landen, beschließe ich, den Kessel am Hang des Eggja zu umrunden und befinde mich bald auf Geröllhalden, die die unangenehme Eigenschaft haben, von oben deutlich steiler auszusehen als von unten. Es wird eine sehr unbehagliche halbe Stunde. Schließlich ist das Quellgebiet jedoch umrundet. Inzwischen haben sich die Wolken verzogen, was den Blick ins Tal noch atemberaubender macht, aber auch dazu beiträgt, daß ich zufrieden doch mit entsetzlichem Durst hier oben stehe, auf ein moosgrünes Tal mich Bächen hinabsehe und schließlich auf einige der mühsam gewonnenen Höhenmeter verzichte und hinabklettere. Die Sonne kommt heraus, das Tal ist windgeschützt und ich bin reichlich erschöpft.

Es ist noch früh am Tag. Warum sollte ich nicht versuchen, das Zelt jetzt schon zu reparieren und doch hier zu bleiben? Wie während des Gehens schon im Geiste durchgespielt, ersetze ich die gebrochenen Segmente der beiden Stangenbögen durch die aus der Firststange und diese wiederum durch die zusammengebundenen Wanderstäbe, nähe den Riß im Überzelt und klebe von beiden Seiten Hansaplast auf, das ich ja sonst ohnehin nicht verwenden kann. Es funktioniert! Das Ergebnis sieht zwar etwas windschief aus, aber es steht. Zusätzlich schichte ich noch eine Windschutzmauer auf, die allerdings etwas flach ausfällt.

Später mache ich mich auf die Suche nach dem Paß. Er ist tatsächlich da, wo ich ihn nach dem Kartenbild vermutet habe, durch eine kleine Steinpyramide markiert und 1140 m hoch. Ich mußte einfach einem Bachlauf folgen. Von oben kann ich ins Jökuldalur sehen und zurück bietet sich ein spektakulärer Blick ins Tal, über den gewundenen Bach auf den sonnenbeschienenen Dellir. Nur leider habe ich Idiot die Fototasche im Zelt gelassen. Bei einem späteren Aufstieg zieht der Himmel den Vorhang zu, kurz bevor ich oben bin.

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