Diphterillis
"Laß es dich einen Moment lang nicht grausen, hörst du!" Ich stand auf und zog mir die Hosen an, die vor dem Nachtschrank auf dem Boden lagen.
Silla hob den Kopf und sah mich besorgt an, wie ich auf einem Fuß durchs Zimmer hüpfte, während der andere noch im Hosenbein verfangen war und nach dem Ausgang suchte.
"Gehst du zur Toilette? Hol' dir bloß keine Diphterillis." Nach dieser Ermahnung drehte sie sich wieder um, murmelte aber noch, bevor ich an der Tür war: "Weißt du überhaupt, was das für 'ne Meinung hat?"
"Was?"
"Na, Diphterillis."
"Klar! Aber bleib ganz ruhig. Ich werd' sie da liegenlassen, falls ich eine finde."
Sichtlich beschwichtigt schubste Silla mein Kopfkissen aus dem Bett.
Die Frühstückstische draußen im Vorraum-Speisesaal waren schon gedeckt, doch noch fehlten die Körbchen mit den Brötchenatrappen.
Hinter einer Tür, der Tür von Claire und Vincent, wurde laut gesprochen, aber immer noch zu leise, um einzelne Worte verstehen zu können. Die Stimme klang blond und ungewohnt rauh zu mir heraus. Doch so langsam ich auch ging, und noch langsamer zu gehen wäre ohne stehenzubleiben nur schwer möglich gewesen, eine Antwort darauf war nicht zu hören. Jedenfalls nicht, bevor sich die Toilettentür hinter mir schloß. Auf dem Rückweg ins Zimmer begab ich mich zur Rezeption hinunter, um unsere prinzipielle Bereitschaft zu frühstücken bekanntzugeben und anstelle des Morgenkaffees eine Kanne Tee zu bestellen.
Silla warf einen argwöhnischen Blick auf den gedeckten Tisch und meldete Zweifel an, ob sie sich dem, was sie sah, würde gewachsen zeigen können. Doch wir bewältigten die Anforderung ohne nennenswerte Komplikationen und ziemlich allein. Nur der lendenbeschurzte Jüngling sah uns wieder aus seinem Rahmen zu und stakte mißmutig über die Leinwand. "Er sieht so leidend aus," bemerkte Silla, "man möchte ihm irgend etwas Gutes tun. Brotkrümel zuwerfen beispielsweise."
"Du bist so gut."
"Wenn' das man weißt. Ich bin eine herzensgute Angelegenheit."
Ischab dschin geschehn
Dann waren wir fertig. Silla steckte die Papierservietten ein und schnalzte mir einen väterlichen Kuß auf die Stirn. "Nu geh man, min lütt Leckerschnut'. Stell dich vorm Portier, mach einen artigen Knicks und frag ihn nach den Busverbindungen."
Ich widersprach. Ich brachte meine Einwände vor, argumentierte geschickt, redete lange und überzeugend - während sie mir geduldig die Hand tätschelte - verlieh meiner Entschlossenheit Ausdruck, mich nicht weiter von ihr verspotten zu lassen - und dann ging ich hinunter zum Portier.
Der erklärte mir ausführlich das System der Linienboote. Er wußte genau, welches Vaporetto vom Bahnhof zum Markusplatz und welches zum Lido fuhr. Ich mußte es wiederholen und durfte dann gehen.
Als ich ins Zimmer zurückkam, spaziert Silla summend auf und ab und fuhrwerkte mit der Zahnbürste im Mund herum.
"Ischab dschin geschehn", schäumte sie mir entgegen.
"Du hast was?"
Sie spuckte, was ihr nicht schon aufs T-Shirt getropft war, ins Waschbecken und wiederholte: "Ich hab' ihn geseh'n. Er hat sich 'nen 'Spiegel' gekauft."
"Wer?"
"Oh, wenn du doch morgens nur nicht immer so dumm wärst! Den Oberlehrer vom anderen Tisch natürlich. Was hältst du davon?"
"Ein deutliches Anzeichen für Eitelkeit", behauptete ich in meiner morgendlichen Einfalt.
"Mein junger Freund, du redest Dummsinn. Ich spreche doch von der Zeitschrift."
"Ich doch auch", beharrte ich, was zwar nicht stimmte, aber es ist immer angenehmer, für geistreich zu gelten, als die eigene Begriffsstutzigkeit bekennen zu müssen.
Silla spülte sich den Mund aus, wobei sie ihre Backen in gurgelnder Gegenbewegung prall aufblies und das Wasser so zwischen den Zähnen hindurchpreßte. Dann ließ sie den Mundinhalt ins Becken platschen.
Schön gefunden
"Du könntest mir mal...", begann sie.
"Ja?" Erkundigte ich mich beflissen.
"Oder..., ach nein, besser doch nicht."
"Na gut!"
Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich blickte ihr nicht minder erwartungsvoll zurück und hob fragend die Brauen.
"Es interessiert dich wohl gar nicht, was ich wollte? Etwas mehr Anteilnahme deinerseits hätte meinerseits eigentlich erwartet werden können."
"Ja, was...?"
"Neinnein, schon gut, bemüh dich nicht mehr. Es hat sich erledigt."
"Aber ich..."
"Laß nur. Streng dich nicht weiter an, jetzt noch Interesse zu zeigen. Es ist dir eben nicht wichtig. Damit muß ich mich wohl abfinden."
"Nun hör doch mal. Ich möchte wirklich wissen, was du sagen wolltest", gelang es mir endlich zu versichern.
"Wirklich?"
"Wirklich!"
"Du möchtest wissen, was ich dir eben nicht gesagt habe?"
"Ja, unbedingt."
"Aber warum denn nur? Man sollte doch meinen, daß ich hinreichend Gründe habe, einen Satz nicht zuende zu sprechen. Es geht dich, denke ich, gar nichts an, was ich sagen wollte. Deine ständige Ausfragerei ist genaugenommen ein geradezu dreister Angriff auf meine Intimsphäre. Was soll das? Du Impertinenzler! Was glaubst du, wer du bist! Und überhaupt: Ich sehe gar nicht ein, warum ich es nötig haben sollte, mein Verhalten vor dir zu rechtfertigen. Nenne mir einen vernünftigen Grund dafür, meine Lieber, nur einen. Warum soll ich dir etwas sagen, das ich nicht sagen will? Oder glaubst du vielleicht, ich wüßte selbst nicht so recht...? Habe ich dir in der Vergangenheit je Anlaß zu einer solchen Vermutung gegeben? Na also! Aber du natürlich, du natürlich wieder. Geht herum und erzählt allen Leuten, ich würde, ausgerechnet ich, die sich doch nie..."
So fluchte sie noch lange stillvergnügt vor sich hin, und wir hatten beide viel Freude daran. Ihr Vorrat an solcherlei verbalen Konserven war nahezu unerschöpflich. Von Zeit zu Zeit gewährte sie ihren gesammelten Redewendungen Auslauf, kramte ihre Floskeln zur Inventur hervor und breitete sie stolz zum Lüften aus. Ich liebte sie sehr dafür.
Die Sätze wurden leiser, gingen in Gemurmel über, versickerten zu einem unterirdischen Grollen und ließen endlich die dazugehörige Mimik allein zurück. Silla beobachtete interessiert im Spiegel, was mit ihrem Gesicht geschah. Sie blinzelte sich zu, lächelte, schmollte, zog die Nase kraus und wechselte hin und wieder einige tonlose Sätze mit ihrem Spiegelbild. Dabei stützte sie ihre Hände auf die Hüfte und drehte den Oberkörper, sich ständig im Blick behalten, hin und her.
"Ich kann's nicht ändern", behauptete sie schließlich leicht resigniert, "ich guck mich an und find' mich schön."
Vergnügens
Dann, mit plötzlicher Besorgnis im Blick: "Du hast doch wohl trotzdem Vergnügens an mir?"
Ich versicherte, ich hätte allerdings sehr viel Vergnügens an ihr. Dafür wurde ich von einem weit geöffneten Mund feucht und laut auf die Gesichtsmitte geküßt. Als krönenden Abschluß bekam ich einen Stoß vor die Brust und landete rücklings auf dem Bett.
Bevor ich mich wieder hochgerappelt hatte, war Silla mit Gelächter durch die Tür entwischt. Also blieb ich auf dem Bettrand sitzen und wartete. Ich wartete lange. Aber außer daß draußen Schritte zu hören waren und Türen klappten, ereignete sich nichts. Ich wartete entschlossen weiter. Ebenso entschlossen widersetzte sich die Tür meinen beharrlichen Suggestionsversuchen, die sie dazu bewegen sollten, aufzuspringen und Silla eintreten zu lassen. Sie blieb starrsinnig geschlossen.
Um mir die Zeit zu vertreiben, vertiefte ich mich in die Lektüre des Stadtplans. Ruga Vecchia, Campo San Giacomo, Rio Terra secondo, Calle dei botteri, Riva, Lista, Campo, Piazetta, Piazza, Calle, Fondamente, Rio, Strada, Via... und da war sie dann doch endlich, mitten im Zimmer. Noch bevor ich mich aus dem Gewirr der Straßennamen vollständig herausgekämpft hatte, begann Silla zu reden.
Kultur auf Reisen
Zuerst verstand ich gar nichts und mußte mir nochmal wiederholen lassen, was ihr zugestoßen war, als sie das Bad hatte verlassen wollen.
"Ich habe Claire in der Dusche gehört."
"Aber die geht doch gar nicht", wandte ich ein.
"Sie hat ja auch nicht geduscht, sondern geweint".
"Das scheint mir etwas übertrieben. Sieh mich an! Weine ich etwa, wenn die Dusche streikt?"
"Naja, du - du bis ja auch ein schlechter Mensch und ein herzloser Affe und was den hygienischen Aspekt angeht, hülle ich mich besser in Schweigen."
Sie hüllte sich aber keineswegs, sondern erging sich stattdessen in üble Schmähungen gegen mich, so lange, bis ich ihr schließlich die Rede mit der Behauptung abschnitt, der Deutsche als solcher gelte gemeinhin als ausgesprochen reinlich. "Reinlichkeit ist bei uns unverzichtbarer Bestandteil der Kultur. Nicht umsonst kennen wir die Tasche zur Aufbewahrung von Hygieneartikeln als Kulturbeutel. Wer, wenn nicht wir, nimmt seine Kultur in einer Tasche mit auf Reisen? Unsere manisch wirkenden Verrichtungen zum Erhalt der Sauberkeit haben uns dem Verdacht ausgesetzt..."
"Wer verdächtigt uns?"
"Na... wir!"
"Aaaaaachso! Also ich kann dich beruhigen. Dich verdächtigt sicher niemand".
"Das würde ich nicht so ohne weiteres behaupten. Ich kannte mal einen Mann, der..."
"Henschn?"
"Ja?"
"Halt den Mund!"
Sie war plötzlich ganz ernst, die Arme verschränkt, nur mit den Schultern an die Wand vor mir gelehnt, und sah auf mich herab.
3063
Ein Blick genügte, um deutlich zu machen: Stop! Vorbei mit Blödelei!
Sie war nicht plötzlich eine Andere. Sie war noch immer Silla, schickte nicht das "innere Kind" aus dem Zimmer, damit die Erwachsenen unter sich sein konnten. Sie mußte sich nicht verstellen, denn auch in Momenten größter Ausgelassenheit, wie kindisch sie sich auch verhalten mochte, war sie noch immer eine erwachsene Frau. Sie definierte sich nicht aus dem Gegensatz. Eine Frau war für sie nicht nur das Gegenteil eines Mannes, eine Erwachsene nicht das Gegenteil eines Kindes. Sich wie ein Kind verhalten zu können - herumzualbern, ihr höchst privates Deutsch zu plaudern - gehörte für sie zum Frausein dazu, wie Situationen tragisch und komisch sind, weil das Leben nicht wertet, sondern nur wir Menschen, abhängig davon, wie nah wir dem Einen oder Anderen sind, wie unser Mitgefühl entscheidet. Silla war nicht weniger Frau, wenn sie sich kindlich verhielt, aber sie spielte auch nicht nur verschiedene Rollen. Sie war von kindlicher Naivität und verstand gleichzeitig Menschen - Männer vor allem - mich vor allem - besser als diese sich selbst. Zu ihrem Wesen gehörten Ernst und Erotik genauso, wie Albernheit und Kindlichkeit, Zorn oder Zärtlichkeit.
"Schon gut!" Beschied jetzt ihre ungeduldige Stimme. "Was willst du sagen."
"Daß sie zum Heulen ins Bad gegangen ist, damit du sie hörst."
"Oder damit er sie nicht hört."
"Kaum."
"Meinst du?"
Ja, das meinte ich. Aber wie dem auch war. Silla hatte an die Tür geklopft und gefragt, ob sie irgendwie helfen könne. Claire hatte sie hereingelassen. Gemeinsam verbrachten sie etliche Zeit auf dem Badewannenrand, die eine weinend, die andere zuhörend und tröstend. Irgendwie hatte sie geholfen.
Den Augen Auslauf gönnen
"Guck mal, sieh mal, bleib doch mal stehen!"
Silla hielt mich am Arm fest und bestaunte mit zurückgelegtem Kopf eine Hauswand. Aus dem blätternden Putz sprossen Sonnen und Sterne, und Blumen wippten an langen Drahtstielen mit ihren Sperrholzblüten. Eine bunte Sammlung von Windrädern pendelte, kreiselte, trudelte, wand sich im Wind.
Ihr Gesicht strahlte.
"Da kannst du's mal seh'n", behauptete sie. Ja, da konnte ich mal sehen, daß es eben gelegentlich sinnvoll sein kann, Stadtplan und Reiseführer im Hotel zu lassen und dann an jeder Abzweigung die Neugier entscheiden zu lassen, wohin es besser zu gehen ist.
"Du mußt auch deinen Blicken etwas Auslauf gönnen. Nämlich: Unsere Augen brauchen ebenfalls ihr Vergnügen", erklärte mir Silla.
Und ganz bestimmt hatten sie Vergnügen daran, wenn hinter der nächsten Ecke ein Kirchturm aus der Vertikalen geraten war und schräg zwischen den beiden Hauswänden lehnte, die hier die Aussicht auf den Himmel begrenzten.
Wir verliefen uns vorsätzlich in schmalen Seitengassen, die immer wieder an Kanälen endeten, entweder abrupt, oder etwas bedächtiger, indem sie Stufe um Stufe in das Wasser hinabsanken - die letzte Stufe von gelegentlichen Wellen überplätschert - wenn eine Treppe den Übergang abmilderte. Die ersten Male verlangte ich noch energisch nach meinen Schwimmflügeln, um wie einst Lord Byron durch die Fluten zu kraulen, aber sie wurden mir verweigert. So fügte ich mich dann doch, und wir gingen denselben Weg zurück.
Flattermäuse
Im Stadtplan sind nur jene Gassen verzeichnet, die breiter als der entfaltete Plan sind. Nun ist Beschränkung zwar eine Notwendigkeit von Stadtplänen - jede Landkarte verdankt ihr Entstehen der Entscheidung, was auszulassen ist, was verschwiegen werden muß - aber bei einer autolosen Stadt, fand Silla, darf nicht die Befahrbarkeit der Maßstab sein. "Sondern?"
"Na, zum Beispiel wie malerisch das Ongsombel ist, wie hoch das Risiko eingeschätzt werden muß, daß Dir Tauben auf den Kopf koten, wie..."
"... so mir?"
"War ja nur exemplarisch."
"Ich möchte meinen Kopf auch nicht für exemplarische Exkremente herhalten müssen. Im Grund genommen..."
"... bist Du mal wieder etwas pingelig."
"Rökelfieke!"
Wir wanderten durch die Stadt, über Brücken, durch Torbögen, treppauf und treppab. Auch an ein Schaufenster gelangten wir, in dem Hühner baumelten, entfedert und kopfunter. Silla bezeichnete sie als nudistische Flattermäuse und befand für notwendig, daß fotografiert würde. Aber auch nachdem der Ladenbesitzer, dem unsere Bemühungen nicht entgangen waren, die Beleuchtung eingeschaltet hatte, mußte sie noch einige Zeit mit den bescheidenen Dimensionen der Gasse ringen. Den Rücken an die gegenüberliegende Wand gedrückt, war es kaum möglich, sich nicht die Nase an der Scheibe plattzudrücken. Trotzdem gelang es ihr schließlich sogar, eine Aufnahme zustandezubringen. Die Beleuchtung erlosch wieder. Die Hühner baumelten still vor sich hin, bläulich, gänsehäutig und ihre Köpfe mit Stanniolpapier umwickelt.
Bitte recht freundlich!
Ein Kopf ganz anderer Art zwängte sich einige Straßen weiter und einige Meter über uns durch die Ziegel einer Hauswand. Bis zum Hals stak dort oben ein sandsteinerner Dämon in der roten Mauer und fletschte grimmig sein Gebiß. Aber das Haus ließ ihn nicht los, sondern zwang ihn, weiß vor ohnmächtiger Wut, all jenen die gebleckten Zähne zu zeigen, die nach einem kurzen Blick auf seine Fratze aus dem sich weitenden Gang hinaustraten auf den Platz, an dem die Kirche stand, und jetzt auch ein Weihnachtsbaum mit bunten Glühbirnen und unter seinen tiefen Zweigen, dort, wo vorher die Wurzeln waren, lockende, liebevoll verschnürte Päckchen, die manchmal von den herbeieilenden Eltern vor dem Zugriff landes- und sittenfremder Kinder bewahrt werden mußten. Die Kinder begriffen nur schwer, daß es sich lediglich um Dekoration handelte, um Illusion, die nicht zum Auspacken gedacht war.
Drehung
Silla war indessen damit beschäftigt, einen jähen Anfall von Entzücken auszukosten, indem sie sich einige Male um sich selbst drehte, damit sie auch ja alles sah. "Ist das nicht inne Wunderlichfulligkeit?", erkundigte sie sich im Vorüberwirbeln, schien aber meine Bestätigung nicht nötig zu haben.
Nach einigen weiteren Rotationen blickte sie mich leicht schwankend von unten her an. "Wir sollten uns das da kaufen, es sieht so typisch aus." Ihr ausgestreckter Arm wies vage auf einen Teil des hinter ihr liegenden Platzes, inklusive des Brunnens, etlicher Häuser und eines beträchtlichen Stückes des diesigen Himmels.
"Was da?"
"Na, das da!" Mit einem Ruck fuhr sie herum und stieß ihren Zeigefinger unleugbar in Richtung auf einen Turm.
Als Silla sich wieder umdrehte und meinen zweifelnden Gesichtsausdruck sah, begann sie zu betteln. "Schenkste mir 'n Campanile? Bitte! Nur einen bloß. Ach ja. Du hast auch keinen Kummer damit, ich versprech's, ich bekümmere mich ganz allein um ihn."
"Ach was", begann ich mich zu wehren, "man hat doch nur Ärger mit sowas. Die fall'n um und machen viel Dreck. Im Mittelalter - bedenke das wohl, mein Kind - gab es über 200 Stück, heute nur noch 160..." "Alle verkauft?"
"Nein, zusammengebrochen. Beim Einsturz des Campanile von San Marco fiel sogar - ich erwähne das nur, um dir zu zeigen, daß so ein Turm kein Spielzeug ist - Mälampyge der mangelnden Baustatik zum Opfer, die Katze des Türmerehepaares."
"Die Katze von was?"
"Na, der zwei Türmer. Sowas wie Hausmeister für Türme eben."
"War sowas denn damals erlaubt, ich meine, daß sich Hausmeister heiraten?"
Ich stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus.
"Darf es außer dem Campanile sonst noch etwas sein?"
Sie grinste. "Ja, ein Tee bitte."
Alles frisch
Mit einem resignierten Nicken schob ich sie sanft zu den Marktständen hinüber. "Komm, wir gehen uns jetzt 'n Fösch beschnuppern, ob er noch frisch ist."
Er war es. Unbestreitbar, und jeder einzeln. In den Kisten lagen Schnecken, Muscheln, Aale und auch Schollen, die nach Luft schnappten, die Kiemen hoben, sich manchmal emporkrümmten und mit dem oberen Auge angstvoll in den Nebel glotzten.
Silla taten sie leid.
"Das sollte nicht so sein", befand sie.
"Nein, das sollte es nicht", stimmte ich zu.
Und damit es etwas anders war, erstanden wir einen Fisch, liefen damit zum nächsten Kanal, wickelten ihn aus seiner Zeitung und setzten ihn ins Wasser. Er schwappte matt an der Oberfläche, nur von den Wellen bewegt, wie der übrige Müll. Erst als Silla ihn mit dem Finger anstippte, sank er langsam tiefer.
--*--
"Wie heißt das hier, Monsieur oder Signore?" fragte sie mich später vor dem Schaufenster einer Bäckerei. Der Fisch war vergessen, und auch die Absicht, am Schalter der Wechselstube unser gesamtes Geld einzutauschen, um einmal im Leben Millionärin zu sein und als solche alle Fische auf dem Markt freikaufen zu können.
"Also sag schon! Monsieur oder Signore?"
Ich sagte es ihr. Aber leider war keine der beiden Anreden verwendbar, denn hinter dem Ladentisch stand eine Frau. In jeder Hand eine Pizza Grecca - mit schwarzen und grünen Oliven dekorierte Hefeteigfladen - kam Silla wieder heraus.
"Senjora, ist das falsch?"
"Nein, falsch nicht, nur unüblich für diese Gegend. In Spanien wäre es weit passender."
"Egal! Ich kann sagen was ich will, die verstehen mich sowieso. Man spricht perfekt Touristisch hier. Nur du verstehst mich nicht, du ja nicht."
Iacopo
Dieser Vorwurf kränkte mich in tiefer Seele. Ich teilte ihr das mit und protestierte: "Wann hätte ich dich je nicht verstanden gehabt?"
"Zum Beispiel jetzt. Von Rechts wegen hätte es dir wohl angestanden, hier zu bezahlen. Du schuldest mir sowieso noch'n Turm und eine Tasse Tee, du hast es mir versprochen, mein Jochen."
Sie bekam ihren Tee.
Während sie trank - an einem Tisch in einem Café an einem Platz mit Kirche und Brunnen - erweckte das gegenüberliegende Haus ihre Neugier.
"Welches, das mit den gestreiften Läden?"
"Nein, das daneben, mit der orientalisch anmutenden Fassade."
"Deine Unwissenheit entsetzt mich. Die Geschichte dieses Bauwerks - nebenbei bemerkt eines der interessantesten der Stadt - kenne ausnahmsweise sogar ich. Es wurde ursprünglich erbaut für Iacopo Forteverducci, einen Mann, der zumindest seinerzeit beachtliche Berühmtheit genoß. Selbst Dante bezog sich auf ihn in seinem Entwurf zur Comedia Divina. Forteverducci beschäftigte sich Zeit seines Lebens eingehend mit der Frage der Sichtbarkeit von Spiegeln, und behauptete schließlich, man sähe lediglich die Reflexion der Realität, nicht aber den Spiegel selbst, der gänzlich in der Erfüllung seiner Aufgabe aufgehe.
Er mußte sein Haus, eben jenes dort drüben, bei Nacht und Nebel verlassen. Andernfalls wäre ihm vom Rat der Zehn wohl der Prozeß wegen Hexerei gemacht worden. Dem guten Iacopo war der Fehler unterlaufen, in einem seiner Werke eine sehr abenteuerliche Geschichte zu berichten. Darin wird erzählt, was sich in stürmischer Nacht an der Nordküste Irlands ereignete. Eine Burg, Dungloe Castle, stand dort hoch auf den Klippen, in deren Spalten und Höhlen schon seit Jahrhunderten das Meer brauste und schäumte. Doch in eben dieser Nacht beschlossen die Felsen, daß es genug sei mit dem Gebrause und Geschäume. Sie stürzten zusammen und mit ihnen stürzte der gesamte Küchentrakt inklusive Küchenpersonal. Nur der Koch konnte sich retten, wurde aber auf die See hinausgetrieben. Zwei Tage später lief er in einem kupfernen Kessel, aus Leibeskräften mit einem Schneebesen paddelnd, im Hafen der Shetlands ein. Dort eröffnete er ein Geschäft, in dem er versuchte, Pasteten mit Fleischfüllung und in siedendem Öl gebackene Kartoffelschnipsel an die Bevölkerung zu verkaufen. Dabei ist er verhungert.
Die Geschichte, so wie Forteverducci sie niederschrieb, ist völlig richtig. Sein Unglück war nur, daß er den Fehler beging, sie sieben Jahre früher zu veröffentlichen, als sie sich tatsächlich zutrug. Man nahm ihm das sehr übel und schenkte seinen Beteuerungen, an dem Vorfall unbeteiligt zu sein, keinen Glauben."
Ungestört genial
Silla war mit ihrem Tee fertig. Sie warf einen letzten Blick auf das Haus und grollte mich an: "Wenn es hier was zu erzählen gibt... nichtwahr!... dann bin ich doch wohl von uns beiden für die Historie zuständig?" Ihre Augen funkelten vor Kampfeslust.
"Monopolistin!" grunzte ich zurück.
"Du schlechter Mensch. Bezichtigst mich solchens, nur weil ich mehr vom Leben weiß als du. Aber merk dirs: Intelligenz schändet nicht. Mich jedenfalls nicht. Es ist doch wohl nicht zuviel verlangt, daß du mich unbändig leidenschaftlich und gleichwohl sittsam liebst - trotz meines Genies."
Ich beteuerte sofort, ihre Genialität niemals als störend empfunden zu haben, aber auf nur schwer nachzuvollziehende Weise ging unser Streit diesmal in ernsthaftes Gezänk über.
In solchen Situationen erschreckte sie mich gelegentlich mit einem Ausbruch von Gereiztheit. Wir konnten dann entweder reden, so lange, bis wir einen Grund zum Streiten gefunden hatten und diesen nutzen, oder uns für einige Zeit aus dem Weg gehen.
Unsere Wahl fiel auf die zweite Möglichkeit. Silla verschwand in Richtung Hotel und ich wanderte allein durch die Gassen, erstand Postkarten, erkannte einige Plätze und Brücken wieder, begann mich nicht mehr fremd zu fühlen in dieser Stadt.
Bald war es dunkel. Ich ging in eine Trattoria, schaffte es irgendwie, vom Wirt eine Tasse Kaffee mit Milch und Zucker zu bekommen, stellte sie auf einen Tisch und setzte mich zu ihr. Mir ging es gut. Ich schrieb mehrere Karten voll, verfaßte einen Brief, studierte die Gesichter der Hereinkommenden, dachte mir Geschichten zu ihnen aus, oder sah ab und zu aus dem Fenster. Der Kaffee war warm und freundlich zu mir, und wir kamen prächtig miteinander aus.
Wieder auf dem Wannenrand
Der Zimmerschlüssel hing nicht mehr am Brett hinter der Rezeption, als ich das Hotel wieder erreichte. Ich wurde erkannt, angelächelt und begrüßt und ging, meinerseits grüßend, die Treppe hinauf. Allerdings kam ich nicht mehr dazu, das Zimmer zu betreten. Silla verwehrte mir den Eintritt. Einen Finger vor den Mund gelegt eilte sie mir entgegen und scheuchte mich, mit der Hand in Richtung Tür wedelnd, als wolle sie ein neugieriges Huhn aus der Küche vertreiben, zurück auf den Flur. Bevor sie mich ganz hinausgedrängt hatte und die Tür hinter sich schloß, konnte ich gerade noch erkennen, daß jemand auf dem Bett lag. Es war Claire.
"Pscht! Sie schläft", zischte Silla etwas verspätet, wobei sie wieder ihrem Zeigefinger gegen die Lippen preßte.
Offenbar ganz im Gegensatz zu ihr empfand ich diese Aussage als entschieden zu dürftig, um die Situation zu erklären. Silla beklagte meine mangelnde Kombinationsgabe und mischte mehrmals das Wort "Asyl" unter ihr Geflüster, bevor sie mich ins Badezimmer drängte und die Tür hinter uns verschloß. Gemeinsam auf dem Badewannenrand betuschelten wir dann die Umstände, die Claire in unser Zimmer geführt hatten. Sie bestanden, Sillas geraffter Fassung zufolge, darin, daß es einen Streit gegeben hatte, mit anschließender Flucht über den Flur und einem formlosen Asylgesuch. Dem Antrag war stattgegeben worden, da es allem Anschein nach keine andere Zufluchtsmöglichkeit gab.
"Und was gedenkst du mit ihr zu tun?" erkundigte ich mich. "Sollen wir sie unter dem Bett oder in der Nachttischschublade verstecken?"
"Blödwutz! Statt die Gelegenheit zu ergreifen, mich von deiner Nützlichkeit zu überzeugen, hockst du hier und spöttelst. Tu' lieber 'was. Hat man dir nicht beigebracht zu erkennen, wenn jemand blaue Flecken auf der Seele hat? Da kränkeln zwei an ihrer Beziehung, und du fragst mich, was wir machen können. Da läßt man den Jungen auf Seelenpfleger belehren, plagt sich, rackert sich ab, wäscht nächtens bergeweise anderer Leute Wäsche, damit du es mal besser hast, damit aus dir 'was Anständiges wird... Du bist doch Psychologe. Psychologier mir mal eins!"
"Ich bin doch kein Zauberer. Was erwartest du? Daß ich mein Abrakadabra spreche und schon ist alles wieder heil?"
"Ach Hokus!" versetzte sie. "Aber anderthalb hilfreichen Gedanken könntest du schon ausbrüten.