Dachgewimmel
"Wenn wir nicht endlich aufstehen, gibt's kein Frühstück mehr."
Sillas verschlafenes Gesicht tauchte aus ihren Locken auf. Es zierte sie ein henniertes Braun.
"Wa-as?"
"Frühstück."
"Das muß ich mir von dir nicht sagen lassen - nicht von dir.Ich doch nicht", murmelte sie mit geschlossenen Augen. "Ist denn überhaupt schon wieder alles da?"
Ich ging zum Fenster, öffnete es, nahm die Milch, die wir über Nacht zum kühlen hinausgestellt hatten, vom Fenstersims, stieß die Läden auf und sah nach.
Ja, es war alles da - soweit ich sehen konnte jedenfalls. Was die gegenüberliegende Hauswand betraf, konnte diesbezüglich kein Zweifel bestehen. Maßlos, mürbe, mit verwitterndem Putz füllte sie mein Blickfeld.
Gewöhnlich war Silla bereit, die Augen zu öffnen, sobald ich ihr versichert hatte, daß die Welt wieder installiert sei. Denn über Nacht, so hatten wir uns irgendwann geeinigt, verschwindet alles um uns her, das ganze reale Drumherum. Es sieht ja sowieso niemand hin.
Diesmal blieben ihre Augen geschlossen.
"Bin ich heute eigentlich schon geküßt worden?" nuschelte sie statt dessen mit ganz kleiner Stimme in ihr Kissen. Das Kissen schwieg dazu. Ich küßte ihre Lider - die Nasenspitze - die Stirn - die Brauen. Da sah sie mich an, ihre Arme kamen unter der Decke hervor, legten sich warm um meinen Hals - und dann gingen die Augen wieder zu.
Pericoloso
Das inbegriffene Frühstück:
3 Brötchen
1 Päckchen Butter (25 g)
1 Päckchen Marmelade (25 g)
1 Kännchen Tee (dünnst)
"Was ist das wohl für Gebäcks?"
"Diese Kekse hier?"
"Ja"
"Das sind die Brötchen."
"Oh!"
Betretenes Schweigen. Dann wieder sie: "Du, Hensch'n"
"Ja, Sillum."
Sie strahlte: "Du latinisierst mich?"
"Nur auf nüchternen Magen."
"Dann iß dich nur tüchtig satt, hörst du's!"
Daß sie mich Hensch'n nannte (nicht wie Häns-chen ausgesprochen, sondern als Nuschelsilbe: Henschn), hatte ökonomische Gründe. Ich heiße nicht wirklich so. "Männers sind immer so sensibel. Sie können es nicht vertragen, versehentlich mit dem Namen ihrer Vorgänger angesprochen zu werden. Darum nenne ich alle meine Liebhaber Hensch'n. Das ist praktisch." Auch wenn diese Begründung nur mit jener gespielten Abgebrühtheit vorgetragen wurde, in der sich Silla manchmal gefiel, wenn das Kind in ihr gerade anderweitig beschäftigt war, spürte ich doch, wie mir die Implikation des Gesagten einen Stich versetzte. Für Silla war es ganz einfach. Schwierig wurde es nur, wenn mich jemand in ihrem Beisein nach meinem Namen fragte. "Nu' mach schon, Hensch'n. Sag' doch, wie du heißt!"
Dann erhob sich Silla noch einmal von ihrem Stuhl. Auf der Zugfahrt hatte sie mit großem Interesse die viersprachige Warnung unter den Abteilfenstern studiert. Und jetzt, angesichts des gedeckten Frühstückstisches brach es gänzlich zusammenhanglos, aber mit Begeisterung und angemessen gestisch untermalt aus ihr heraus: "E'pericoloso sporgersi! Pe-ri-coloso!"
Verborgen
Inmitten dieses Ausbruchs ging links eine Tür auf. Da der Frühstückssaal nichts anderes war als der Vorraum zu den Gästezimmern, mündeten viele Türen in ihn, Gemeinschaftstoilette und -bad eingeschlossen. Links also traten ein Mann und eine Frau heraus und setzten sich an einen Tisch, wobei sie uns im Vorübergehen grüßten. "Guten Morgen", sagte sie, "Buon Giorno", wünschte er. Wir beschränkten uns beide auf ein knappes "Giorno". Wir pflegten einen vertraulichen Umgang mit der fremden Sprache, waren gleich zum "Du" übergegangen, ohne lange Förmlichkeit. Die Sprache allerdings zierte sich etwas. Gewöhnlich trauen sich Menschen nicht, an einer anderen als ihrer Muttersprache Verkürzungen oder Verdrehungen vorzunehmen. Sie haben zuviel Angst vor dem fremden Idiom, um es persönlich zu kennen, um mit ihm spielerisch umzugehen oder einfach nur so sparsam, wie es bei täglichem Gebrauch vernünftig ist. Wir hatten auch Angst, aber um in korrektem Italienisch den gewünschten Eindruck zu erwecken, fehlte uns schlicht das Vokabular. Unser Sprachschatz belief sich, wenn wir zusammenlegten, auf ein knappes Dutzend Worte. Aber da wir diesen Vorrat so wenig ehrfürchtig behandelten, die Sprache einfach leben ließen, statt sie mechanisch und korrekt zu benutzen, hielten uns die beiden am Nebentisch für Einheimische.
Das war sehr praktisch. Zum einen bewahrte es uns davor, Bekanntschaften einzugehen, deren Nähe sich nur aus der Entfernung von der gemeinsamen Heimat ergibt. Wir waren uns vorerst selbst genug. Zum anderen gab es uns Gelegenheit zum Zuhören, glaubten sich die Belauschten doch in Sicherheit.
Was wir da taten war zumindest unanständig, vielleicht sogar verabscheuungswürdig und abscheulich, es war gemein, hinterhältig, zutiefst voyeuresque... und wir taten es gern. "Das sind wir unserer Neugier schuldig!" erklärte Silla später und fügte dann hinzu: "Pflicht ist Pflicht. Tu sie gern. Dann gefällst du Gott dem Herrn". Wir lagen gewissermaßen bei Tisch im Hinterhalt, verschanzt hinter der Sprachbarriere.
Konfitüre
Sie saßen mir im Rücken. So konnte ich aufmerksam zuhören, mußte mir zwar im Geiste die Mimik zu den Stimmen entwerfen, brauchte jedoch meinen Gesichtszügen keinerlei Beschränkungen aufzuerlegen. Silla dagegen hatte es schwerer. Sie mußte ständig bemüht sein, ihre Mimik um Zaum zu halten. Das gelang ihr allerdings großartig. Gelassen betupfte sie ihre Kekse mit Marmelade und sah beim Kauen teilnahmslos an einem farbenprotzenden Riesenölbild neben sich hoch, auf dem ein lendenbeschurzter Jüngling unter zitronengrüner Sonne eine v-förmige Gondel über die Lagune stakte. Das Wasser war purpurn mit kleinen violetten Wellen darauf. Es sah aus, als litte es an einer üblen Mischung von Röteln, Scharlach, Windpocken und Kitsch.
Der Marmelade zum Trotz breitete sich um ihren Mund ein säuerlicher Zug aus. Sie neigte schon von berufswegen leicht dazu, sich bei solch öligen Genüssen die Ästhetik zu verderben. Das Studium der Kunstgeschichte macht sensibel.
Am Nebentisch hingegen benahm man sich weniger empfindsam. Da wurde der Tagesablauf besprochen, gestützt auf die Empfehlungen irgendeines Reiseführers, der sich von Seinesgleichen nur in den mitgelieferten Preisen unterschied. Wie wir später feststellten, stimmen die Preise nie, aber anhand der Höhe der Liraangaben läßt sich ziemlich genau das Druckdatum des Buches schätzen. Zwischen die Liste der zu besichtigenden Objekte aber fielen immer wieder jene Sätze, die das Belauschen fremder Gespräche so spannend machen, aus denen sich nach einigem Zuhören so herrlich ein ebenso phantasievolles wie falsches Bild zusammenpuzzeln läßt.
Claire und Vincent
Die Stimme der Frau klang zierlich und ziemlich blond. Aus gutem Grund. Sie war zierlich und ziemlich blond, und hatte im Kontrast dazu braune Augen mit langen Wimpern, was allerdings beides nicht zu hören war. Manchmal geriet ihr ein kleines bißchen Rauhheit in die Stimme. Besonders wenn sie neu ansetzte, nachdem sie unterbrochen worden war. Das geschah ziemlich oft, und bald war vor lauter abgeschnittenen Worten, die herumlagen und den Weg versperrten, kein Durchkommen mehr, jedenfalls nicht für das Gehör Uneingeweihter, die sich erst die Hintergrundgeschichten rekonstruieren müssen, um unterschiedlichen Reaktionen zu verstehen. Als sei man erst zum dritten Akt eines Theaterstücks in die Aufführung hineingelassen worden.
In der Stimme des Mannes schwang deutlich eine beträchtliche Portion Oberlehrer mit, jenes unerschüttliche Vertrauen in die Bedeutung und Unfehlbarkeit des eigenen Wissens. Eines Wissens, durch dessen weltweite Verbreitung allein das Fortbestehen menschlichen Lebens auf diesem Planeten gewährleistet werden kann, sofern man nicht bereit ist, dieses einer unbegreiflichen Laune des Schicksals oder der Existenz eines spaßorientierten göttlichen Wesens zuzuschreiben. Begeistert berichtigend brach er in die blonden Sätze ein, belehrte darüber, daß man nicht 'Gi-u-decca', sondern 'Dschudec-ca' sagen dürfe, da ein 'gi' vor 'a','o' und 'u' wie 'dsch' auszusprechen sei. Er klang hörbar zufrieden, zuversichtlich, daß der betreffende Stadtteil ihm die korrekte Aussprache seines Namens danken würde. Silla stieß energisch ihr Brötchen in die Konfitüre. Soviel Geist (bei einem Mann) beeindruckte sie immer maßlos.
Verborgen hinter unserem vorgetäuschten Ausländertum erfuhren wir sogar die Namen der beiden. Sie hießen Claire und Vincent. Es gibt Namen, bei denen ich automatisch erwarte, ein Sternchen zu sehen, das auf die Fußnote "Von der Redaktion geändert" verweist. Diese gehörten eindeutig dazu.
Erst als sie gegangen waren, sah mich Silla wieder richtig an, machte große Augen und blies die Backen auf.
Fragen
"Na, mein Alter", seufzte sie, "das war jetzt aber mal nicht so schön, was?"
Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das Frühstück oder das Rahmenprogramm am Nebentisch meinte und schickte mich schon an, einen Versuchballon in Form eines diplomatischen "ängdwie... nein!" zu starten, erkannte aber gerade noch rechtzeitig, daß Silla lediglich eine Feststellung in das Gewand einer Frage gekleidet hatte.
"Und womit füllen wir jetzt den Tag?"
"Wir sollten ein wenig gehen", schlug ich vor.
Wir gingen.
Über den Kanälen hing der Nebel. Die Sonne hatte sich einen Schleier zugelegt.
Wir drangen in die Schlucht zwischen zwei Häuserblocks ein, stiegen einige Stufen hinauf und stellten uns auf die Brücke an ihrem Ende. Mit der anderen Seite klebte die Brücke an einer Hauswand. Sie zielte genau auf eine geschlossene Tür. Über den Kanal waren in unterschiedlichen Höhen Wäscheleinen gespannt. Hemden, lange Unterhosen und geblümte Bettbezüge hingen unbeweglich im Nebel. Trübes Licht, bröckelnder, verblichener Putz, schwarzes Wasser, aus dem mehrere Stangen ragten, und festgebunden an einer dieser Stangen ein knallrotes Boot. Es wirkte wie hineingeklebt in eine Schwarzweiß-Fotographie. Seine Farbe gellte durch all die matten Töne zu uns herauf.
Ich starrte noch immer ganz gebannt auf dieses Bild, als Silla fragte: "Wie kommen die Leute eigentlich in ihre Boote?"
Ja, wie eigentlich? Das war rätselhaft. Sie lagen nämlich alle an einer Wand ohne Türen oder Fenster. Zwar führte auf der anderen Seite ein Weg am Kanal entlang, aber von dort waren die Boote nicht zu erreichen. Mein Lösungsvorschlag, die Besitzer könnten aus dem zweiten Stock hinunterspringen, wurde als indiskutabel zurückgewiesen, und die Vorstellung, jemand würde jedes Mal mit einem anderen Boot zu seinem eigenen fahren, schien uns zu umständlich. Wir wußten es nicht. Einigten uns aber darauf, daß sie dort wachsen müßten... die Boote.
Antworten
Damit hatten wir das Rätsel zwar noch nicht wirklich gelöst, doch waren wir irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, daß es uns mit beantworteten Fragen gleich viel besser ging, auch wenn diese Antworten aller Wahrscheinlichkeit nach bodenloser Unfug waren. Der Mensch braucht Antworten. Er fühlt sich sehr unbehaglich bei dem Gedanken, daß die Welt oder auch das Leben ihn beständig mit Fragen konfrontiert, deren Tragweite er nicht zu überblicken vermag, die er nicht begreift oder, aus einem unbestimmten Argwohn heraus, für Fangfragen hält. War nicht gerade dieses Unbehagen letztlich der Ursprung von Religion und Wissenschaft? Die Menschheit war erst zufrieden, wenn sie Antworten hatte, selbst wenn diese schon auf den ersten Blick völlig behämmert waren. Niemand konnten im Ernst annehmen, daß Noah ohne nennenswerte Unterstützung durch eine mittlere Werft ein Holzboot von den Ausmaßen eines Supertankers gebaut habe oder in jedem kleinen Jungen der Wunsch schlummere, seinen Vater zu töten und mit seiner Mutter zu schlafen, während ihm alle kleinen Mädchen neidvoll zusähen. Gewöhnlich kam man auch mit falschen Überzeugungen im Alltag wunderbar zurecht - die Erde ist eine Scheibe und die Sonne hat nichts Besseres zu tun, als sie zu umkreisen - für den Hausgebrauch völlig ausreichend. Der Fundus unserer Allgemeinbildung befriedigte lediglich das Bedürfnis, Antworten parat zu haben, falls uns das Leben mit einem unangemeldeten Examen überraschen sollte. "Hefte raus, Jungs und Mädels! Welt erklären!"
Silla vertrat zudem eine Auffassung, die, wie sie versicherte, sich bereits im ersten Semester bewährt hatte. In Ermangelung der gewünschten Antwort oder aus dem Bedürfnis heraus, Andere an den eigenen Einsichten teilhaben zu lassen, sei es immer vorteilhaft, beherzt an der Frage vorbeizuantworten oder sie für bedeutungslos zu erklären. So könnten die großen Fragen der Menschheit, fand Silla, doch unmöglich die eines desorientierten Bahnkunden sein. Wo komme ich her? Wohin gehe ich?
"Wer will das wissen? Mich interessiert doch viel mehr, wen ich unterwegs treffe. Warum warst Du da, und nicht..."
"...Shylock?"
Shylock
"Wenn Du damit andeuten willst, daß wir uns dem Ghetto Nuovo nähern, mein Henschn, dann deute Du nur. Aber ich hab's schon giemeakt."
"Was hast Du?"
"Giemeakt! - Das verstehst Du wieder nicht, das ist Mittelhochdeutsch."
"Du flunkerst!"
"Nie nicht - und an dich flunkere ich schon gar nicht. Aber als ich mittelhoch war, etwa so," sie legt die flache Hand einer imaginären Fünfjährigen auf den Scheitel, "und mich des Deutschen bemächtigte, da hieß es so. Giemeakt! Merk dir das! - Kannst Du, Henschn?"
Ich versprach zu können.
Dann gingen wir über eine Brücke und es war wieder Zeit für ein "Also".
"Also," dozierte Silla, "hier begeben wir uns jetzt nämlich ins Ghetto, dem ältesten seiner Art, das allen Folgenden den Namen gab. Das Wort bedeutete ursprünglich 'Gießerei', denn genau die befand sich hier, ringsum von Kanälen umgeben, wodurch die von den Metallgießern ausgehende Gefahr eines Feuers für die angrenzenden Wohngebiete verringert wurde. Das Ghetto ist eine Insel mitten in der Stadt, auf die nur zwei Brücken führen, die in früheren Zeiten nachts verschlossen und bewacht wurden. Das Verbot, woanders zu wohnen, zwang die Bewohner des Ghettos, immer weiter in die Höhe zu bauen. Bis zu sieben Stockwerke wurden übereinandergeschichtet. Hier stehen die höchsten Häuser Venedigs."
Das war wohl so. Aber mit wachsender Höhe schienen die Baumeister immer ängstlicher geworden zu sein. Die oberen Stockwerke sahen niedrig und zusammengedrückt aus, als müßten sie den Himmel stützen.
"Da kann was nicht stimmen", fühlte ich mich genötigt einzuwenden. "Wenn dies das neue Ghetto ist, wo ist dann das alte und wie kann es überhaupt das neue sein, wo Du doch behauptest, es wäre das erste seiner Art?" Silla betrachte mich voller Stolz. "Du bist so ein kluges Kind, mein Bullebutz. Gut aufgepaßt!" "Das alte ist dort!" Sie schwenkte ihren Arm mit jener großen Geste, die von ihr, wie ich inzwischen begriffen hatte, nicht dazu gedacht war, der räumlichen Orientierung zu dienen, sondern nur bedeutete "nicht hier - irgendwo anders".
"Das Ghetto Nuovo heißt so, weil sich an dieser Stelle die neue Gießerei befand. Es gibt auch ein Ghetto Vecchio, aber das ist neuer."
Auf dem Platz zwischen den Häusern standen zwei Touristengruppen herum. Die eine scharte sich fröstelnd um das winterliche Gerippe einer Platane, die andere fotografierte ein Stück Mauer, an der Bronzetafeln die Erinnerung wach halten sollten. Vor einem Andenkenladen welkten in der feuchten Luft Postkarten. "Dort haben wir", fuhr Silla nach links nickend fort, "das Gebäude, in dem Shakespeare 1595 unseren Shylock einquartierte, den Kaufmann von Venedig. Rechter Hand dann die Synagoge, die Scuola Grande Tedesca, gleich daneben ein verliebter Dichter und hier stolperst Du gleich über den Brunnen des Campo von fünfzehnhundertzwölf, wenn ich nicht aufpassen würde."
Leander
Zu Sillas Genugtuung mußte ich den Brunnensockel einigermaßen unelegant umtänzeln, konnte jedoch, obwohl diese akrobatische Einlage eigentlich meine gesamte Aufmerksamkeit erfordert hätte, nicht der Versuchung widerstehen, einen Blick auf den Menschen neben dem Eingang der Synagoge zu erhaschen. Dort stand tatsächlich ein Mann, in schwarzem Mantel, die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern leicht hochgezogen. Sein dunkles Haar schien altersunangemessen gelichtet. Ich war durchaus geneigt, mich von Sillas sonstigen Kenntnissen beeindruckt zu zeigen, hielt ihre Behauptung, wir hätten es hier mit einem Dichter zu tun, einem verliebten obendrein, jedoch für einen weiteren Fall von frei erfundener Antwort ohne konkreten Wissenshintergrund - zu meinem Wohle ausgedacht vielleicht, aber von zweifelhafter empirischer Güte.
"Du zweifelst", sagte sie, meine Mimik deutend. "Skeptizismus ist im Alter ein chronisches Leiden, in der Jugend hingegen durchaus zu begrüßen. Bei Dir jedoch...", sie sah mich nachdenklich an, "äußert sich darin eine Bereitschaft zum Mißtrauen mir gegenüber, die ich nicht zu tolerieren bereit bin. Da gibt es nur eins: Wir müssen wetten!"
"Wetten? Um was?"
"Wenn ich gewinne, schenkst Du mir ein Buch aus dem Werk unseres Dichters und wenn Du gewinnst, schenke ich es Dir. Sie grinste."
"Klingt fair."
"Ja, klingt so."
Wir gingen weiter auf den Eingang der Synagoge zu, doch kurz bevor wir dort ankamen, machte Silla die wenigen Schritte zu "unserem Dichter" hinüber und sprach ihn an.
"Was hast Du getan?" fragte ich, als sie kurz darauf wieder bei mir war, noch immer lächelnd.
"Ich habe ihn gefragt, ob dies tatsächlich der Eingang zur Scuola Grande Tedesca sein kann."
"Und?"
"Er spricht Deutsch."
Nachdem das geklärt war, zupfte sie mich nachdenklich am Ärmel und schob mich dann aus der Trostlosigkeit des Platzes in den unscheinbaren Hauseingang. Wir kauften zwei blaue Zettelchen, gingen eine Treppe hinauf und standen in der Synagoge. Verborgen in einem äußerlich völlig normalen Wohnhaus war plötzlich alles Prunk: Blattgold, Marmorplatten und alte, dunkle Holztäfelung. Uns wurde ganz andächtig. Erst später dachten wir darüber nach, was Menschen dazu bringen kann, ihre Kirche zu verstecken.
"Er wirkt etwas schüchtern." Erklärte mir Silla, einen reich verzierten neunarmigen Chanukka-Leuchter in einer Vitrine betrachtend.
"Ach?" sagte ich und besah mir den Leuchter um Einiges intensiver als vor ihrer Bemerkung.
Silla schaute zu mir herüber, sah nochmals kurz, meinen Blick folgend, den Leuchter an und wandte sich dann endgültig mir zu.
"Ich frage mich", sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir, "wie es wohl kommt, daß ich dich durchaus lieb haben kann, obwohl Du doch nachweislich ein so dummer Mensch bist?"
"Diese Frage bewegt mich schon lange. Ich hoffe, Du meinst sie jetzt rein rhetorisch, denn ich weiß die Antwort nicht."
Wieder draußen im Nebel fotografierten und fröstelten noch immer zwei Touristengruppen, eine Frau mit schweren Einkaufstaschen verschwand in einem Torbogen, Putz blätterte von den Wänden. Wir steuerten auf die Brücke zu, in deren Nähe noch immer ein Mann in schwarzem Mantel damit beschäftigt schien, die Stimmung des Platzes in sich aufzunehmen. Sillas Hand glitt über meinen Rücken und dirigierte mich in leichtem Bogen etwas näher an unserem Dichter vorbei. Bevor wir in Hörweite kamen, begann sie unvermittelt zu zitieren:
"Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?".
Ich sah sie verwirrt an, doch sie fuhr ungerührt fort:
"Wenn ihr uns kitzelt,..." noch zwei Schritte! "...kichern wir nicht? Wenn ihr uns..."
"Verzeihen sie! - Es muß 'lachen wir nicht?' heißen. 'Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?'"
"Oh! Tatsächlich?" Sillas behandschuhte Finger trommelten einen triumphierenden Wirbel auf meinem Rücken und in diesem Moment wurde mir klar, was sie getan hatte.
Freunde
Aufgrund der Kälte hatten wir uns eine Art zielstrebiges Herumirren angeeignet. Wir wußten nur gelegentlich, wo wir uns befanden, und hatten selten ein klares Ziel, doch dahin wollten wir möglichst schnell gelangen, um nicht frieren zu müssen.
Silla ging zwischen uns, während ich, gewohnt mir mit ihr die Mitte zu teilen, mich plötzlich am Rand wiederfand. Leander - das war tatsächlich sein Name - Leander sprach über Kunst und sie ließ ihn gewähren. Sie duldete es nicht nur, daß er sich ihres Metiers bemächtigte, sondern sie lächelte ihm sogar aufmunternd zu oder ergänzte freudig seine Ausführungen. Es gab begeisterte Wortwechsel zwischen den beiden. Sie woben sich ein Gespinst aus Namen, aus ihnen vertrauten Andeutungen... und ich blieb lauschend außerhalb dieses Kokons.
"... mir persönlich scheint jedoch, man wird, ohne sein letztes Portrait gesehen zu haben, ich denke da nur an dieses in seinem Duktus nachgerade phlegmatische Weiß der Lilien, kaum zu ermessen vermögen, wozu Malerei fähig ist..."
"...sofern man nicht in unserer Pension gefrüh... " Zwei Gesichter wandten sich in einer gemeinsamen synchronen Bewegung mir zu, den gleichen Ausdruck überraschten Unwillens tragend. "Möchtest Du uns damit etwas Bestimmtes sagen, Henschn!"
"...stückt hat". Nein, ich glaubte eigentlich nicht, daß ich "uns" damit etwas hatte sagen wollen.
"Och-nöööö... .nur so ein Gedanke"
Das Gespräch wurde wieder aufgenommen und ich folgte ihm durch etliche zielstrebig durchschrittene Gassen, über eine Piazza bis in ein Café, in das es getragen wurde. Dort wandte es sich dem Thema der Melancholie zu, um sich schließlich der Frage zu widmen, mit welchen, möglichst wenigen Wörtern ein Höchstmaß an Traurigkeit transportiert werden könnte.
"Es gibt da", begann Leander, "ein jiddisches Lied, die 'Zehn Brüder'. Jeder von ihnen handelt mit einer anderen Ware und in jeder Strophe stirbt einer von ihnen. 'Einer ist von uns gestorben, da warn wir nur noch neun' oder 'acht' oder 'sieben'... In der letzten Strophe heißt es dann 'Ein Bruder bin ich gewesen, habe gehandelt mit Licht, ich sterbe jeden Tag, denn zu essen hab ich nicht'. Dieser Zeile 'Ejn Bruder bin ich mir gewesn,...' das sind die traurigsten sechs Wörter, die ich kenne."
"Es geht noch kürzer", sprach Silla in das Schweigen.
"?"
"?"
"'Laß uns Freunde bleiben.' - Vier Wörter."
Dann verstummte sie, und ich wußte, daß sie in diesem Moment nicht bei mir war.
Ich kann das schon
"Er ist etwas schüchtern", wiederholte Silla, nachdem wir Leanders dunkle Gestalt in Richtung seiner Pension hatten in eine Gasse einbiegen sehen. Sie liebte es, sich selbst zu zitieren, als habe die Bemerkung eben erst gemacht und nicht bereits vor Stunden oder Tagen. Die Zeit schien sich in ihrem Sprachgedächtnis in Kreisen zu bewegen, sich in ihrer Erinnerung zu ringeln und so mehrmals an eine Stelle zu gelangen, die für mich längst Vergangenheit war. "dieses Ganze Gerede über Kunst gibt ihm Sicherheit".
"Und daß Du ihn nach dem Eingang der Synagoge gefragt hast... das war doch nicht nur, um herauszufinden, woher er kam?"
"Nein, aber ohne diese Handvoll Wörter hätte er sich später nicht getraut, sich in unser Gespräch einzumischen."
"Wer studiert eigentlich Psychologie von uns beiden!"
"Du mein Jung, ich kann das schon."
Es gibt in der Stadt eine Art Wanderweg, der vom Bahnhof zur Piazza di San Marco führt und über die Ponte Rialto wieder zurück. Er ist gesäumt von Geschäften, die ihre Einnahmen offenbar größtenteils aus dem Verkauf von Masken bestreiten, und - damit sich die Käuferströme nicht in die ökonomisch weniger erschlossenen Bereiche der Stadt verirren - reichlich mit Wegweisern ausgestattet. Wir gerieten auf unserem weiteren Erkundungsspaziergang auf diese Rennstrecke, wurden vom Strom der Tagesbesucher mitgerissen und konnten ihm erst viel später wieder entkommen. Silla stellte die Theorie auf, italienische Frauen wären an ihren hellbraunen Wildlederjacken zu erkennen, und daran, daß sie selbst im tiefsten Winter kurze Röcke und schwarze Strümpfe trügen. Außerdem beschwerte sie sich, ignoriert und mehrmals schon beinahe umgerannt worden zu sein, nur weil sie diesem Ideal nicht entsprach. Meinen Einwand, es läge vielleicht daran, daß ein weiteres Kennzeichen die Sonnenbrillen seien, die trotz des Nebels von vielen getragen wurden, ließ sie nicht gelten. "Du solltest es dir angelegen sein lassen, mich zu verteidigen", forderte sie, "statt Entschuldigungen zu finden für Leute, die Du nicht mal kennst."
Ihr Zorn legte sich erst wieder, als wir abseits der Besichtigungsroute nach dem Palazzo Contarini suchten. Durch mehrere schmale Gänge und eine Glastür gelangten wir endlich auf einen engen Hinterhof und verrenkten uns fast die Hälse bei dem Versuch, an der Fassade emporzusehen. Aber es lohnte sich, denn zu dieser Fassade gehört die Scala detta del "Bovolo", ein Turm - nein, eine Wendeltreppe mit etwas Turm drumherum, garniert mit einigen Säulen. Im Becken eines stillgelegten Brunnens lag eine Katze und blinzelte zu uns herüber. Wir waren die einzigen Besucher. Niemand verlangte Eintritt oder fand es nötig, uns die Historie zu erläutern, und über die ferne Ecke des Innenhofes spannte der Winterhimmel sein phlegmatisches Weiß.
Vor uns dies und im Rücken Longhena
"So, und jetzt gehen wir in Kultur!" bestimmte Silla, als sich die Kälte wieder bemerkbar zu machen drohte.
Wir gingen also. Glastür - schmale Gänge - Rennstrecke - rechtsrum.
"Sag mal, Frau Reiseleiterin, was steht denn noch so auf unserem Programm?" Silla lehnte sich gegen das Geländer der Holzbrücke an der Accademia, nickte ziemlich vage in Richtung auf den unter uns fließenden Canal Grande und versuchte, sich die Nase zu putzen. Sie schnaubte mit sichtlicher Anstrengung, doch ohne nennenswerten Erfolg. Naseputzen gehört zu den Fertigkeiten, die ihr am wenigsten liegen.
"Der kostspieligste Bestechungsversuch Venedigs", antwortete sie schließlich, preßte sich nochmal das Taschentuch ins Gesicht und schnob aus Leibeskräften hinein. "Da drüben steht er."
Ich blickte in die Richtung, in die sie ihre Viren ausschüttelte und entdeckte etwas, das von Weitem einem Tempel ähnelte, dem man eine halbkugelförmige Mütze übergestülpt hatte.
"Das ist die Kirche Santa Maria della Salute", schnaufte sie durchs Stoffknäuel, "genannt nach der für Gesundheit" - ein letztes Abwischen der Nase - "und Seelenheil zuständigen Heiligen. Beides war zweifellos 1630 ziemlich gefährdet, denn..."
Beides? Ich zählte leise an den Fingern ab: Gesundheit, Seelenheil und ein Heiliger, macht.... Silla betrachtete mich genervt.
"Der Heilige war natürlich nicht gefährdet, da bereits verstorben. Sozusagen eine Grundvoraussetzung für Heiligtum. Damals also", sie sah mich streng an, "herrschte gerade die Pest in Venedig. Schon einige Monate nach dem Ausbruch beschloß der Senat, eine Kirche zu bauen, ganz sicher in der Hoffnung, das Schicksal damit gnädig zu stimmen und von der Seuche nicht so derbe gebeutelt zu werden. Wahrscheinlich wäre es mindestens genauso sinnvoll gewesen, mit dem Geld das Gesundheitswesen und die Ernährung der Bevölkerung zu verbessern, aber wie dem auch sei, jedenfalls wurde ein gewisser Baldassare Longhena mit dem Bau beauftragt. Als die Kirche endlich fertig war, beinahe 60 Jahre später, dachte schon niemand mehr an die Pest, und auch Longhena war schon seit fünf Jahren tot."
Ach!
Wir standen nebeneinander auf dem glatten Marmorboden, inmitten von Säulen und guckten in die Kuppel, die von außen wie eine Mütze aussah. Oder eher noch wie eine Pickelhaube - mit gegen den Himmel gerichteter Spitze. Eine defensive Gebärde der Stadt gegen die apokalyptischen Reiter.
Hinter Santa Maria della Salute kommt nicht mehr viel. Der westliche Teil der Stadt läuft hier zu einer Spitze aus, die genau auf San Giorgio Maggiore zielt. Aber davon war im Nebel nichts zu sehen. Vor uns flossen der Canale della Giudecca und der Canal Grande zusammen, einige schwarze Baumstammbündel ragten aus dem Wasser und irgendwo im Unsichtbaren bimmelte ein Boje in regelmäßigen Abständen mit ihrer Glocke.
"Ach!" seufzte Silla und blickte weiter übers Wasser.
"Was achtest Du?"
"Der Duckdalben wegen. Sind sie nicht wie ein verklingender Ruf der Heimat - hier in der Ferne?"
"Wahrscheinlich, aber was sind Duckdalben? Meinst Du vielleicht jene gefiederten Gesellen mit dem klagenden Ruf, die dort auf dem Wasser nicht zu sehen sind?"
"Da kommt der Mann vonne Küste und ist mit den Grundbegriffen der Christlichen Seefahrt nicht vertraut. Dalben sind das, was du dort so dunkel ragend im Nebel erahnst." Silla nickte in Richtung Wasser. "Wenn Du ein Boot hättest, könntest du es daran vertäuen."
"Ein fesselnder Gedanke."
"Was?"
"Einen Kompass habe ich schon. Fehlt mir noch das Boot."
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Viel später:
"ßvenja!", sagte sie unvermittelt.
"Wie: Svenja!?"
"ßvenja fängt auch mit Eszett an."
"Aber nur akustisch, nicht orthographisch"
"Das sind doch wohl vernachlässigbare Feinheiten, Schattierungen, Nuancen, Haarspaltereien. Willst Du päpstlicher sein als der Papst? Pingeliger als Pentakeln? Kannst Du nicht einfach mal Deine Niederlage eingestehen, meinen überlegenen Intellekt anerk..."
"Was sind denn bitte 'Pentakeln'?"
"Wie? Du wüßtest nicht, was Pentakeln wären? Mien arm Dschung! Mit tränenerfüllten Augen sah sie ihn an. In welcher sprachlichen Diaspora bist du denn wohl aufgewachsen? Das kommt von penta - fünf - und Menetekel, fünffache Zeichen sozusagen, also..."
"... fünfpfählige Duckdalben", fiel ich ihr ins Wort.
"Du bischa sooo kluch!", sagte Silla und legte mir ihre behandschuhte Hand an die Wange. Wir sahen uns an. Dann fügte sie zärtlich hinzu: "Man möchte die Lagune mit dir schmücken."
Veneblig
Silla meldete ihren wachsenden Hunger. Auch mein Magen schien nur auf sein Stichwort gewartet zu haben, um sich ihr willig anzuschließen. Also machten wir uns auf die Suche nach einer geeigneten Trattoria, wobei wir den Preis der jeweils billigsten Pizza auf der Preistafel als Maßstab nahmen. Schon ziemlich am Ende des Fondamente Zattere konnten sich unsere Mägen und unsere Sparsamkeit endlich einig werden. Wir setzten uns ins überheizte Hinterzimmer und fanden es bald ganz behaglich. Eine dicke italienische Mam-ma mit Schürze und einem Zögern in der Mitte, brachte uns zwei Tassen Tee und sagte etwas über die Kälte und es machte gar nichts, daß die Worte nicht zu den zwölfen gehörten, die wir kannten.
Während des Essens wurde es draußen rasch dunkler. Silla ließ sich vom Wirt eine Handvoll Telefonmünzen geben. Er verwahrte sie in einer Blechdose unter der Theke und zählte sie umständlich vor uns hin, immer fünf Stück in einer Reihe. Wir brauchten nur drei. Daheim ging es Allen gut, auch wir waren gesund, das Wetter? - Ja, hier ebenfalls, schön, jaja, ach der Olle, doch, er betrüge sich leidlich, tschüß dann.
"So, und wie kommen wir jetzt zurück?"
Silla sah mich fragend an. "Wo ist das Problem, mein Henschn?"
"Na, die große, fremde Stadt...wir ganz allein undallesundso."
Darauf tätschelte sie mir verbal das Gemüt: "Vertraue nur getrost dem untrüglichen Gespür einer Frau. Das Räumlich-Konstruktive ist mir quasi in die Wiege gelegt worden."
Ich vertraute. Wenn diese Fertigkeit zur Grundausstattung meiner Wiege gehört haben sollte, liegt sie dort wahrscheinlich heute noch. Tätsächlich befanden wir uns eine halbe Stunde später in unserem Zimmer. Sie leitete uns zielstrebig durch Nebel und Dunkelheit. Wie sie es fertigbrachte, weiß ich bis heute nicht.