Silla
Ich nannte sie nur Silla. Ihren richtigen Namen hatte sie angeblich vergessen.
Gelegentlich vertrat sie auch die Ansicht, man müsse mit seinem Sonntagsnamen vorsichtig umgehen und ihn nur zu besonderen Gelegenheiten anlegen, damit er sich nicht abnutze. Grenzübertritte seien vielleicht eine solche Gelegenheit. Ansonsten fühle man sich mit ihm aber immer irgendwie unwohl. Für die restliche Zeit hatte sie ihren Alltagsnamen, den sie zu tragen gedachte, bis er von selbst auseinander fallen würde. Dann gab's einen neuen. Silla war ihr Alltagsname. Vielleicht hieß sie Sylvia, Sylke oder Andrea. Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist es der einzige, auf den sie reagiert - abgesehen von Klaus-Dieter. Letztere Tatsache gehört zu den Merkwürdigkeiten ihres Wesens. Man konnte sie nachts, schlafbenommen leise "Kläuschen" nennen, und sie antwortete ohne Zögern mit "Ja?".
Überhaupt, ihre Schlafbenommenheit! Sie hört sich dann nur noch zeitweilig zu, während ihre Mitteilungsbedürfnis Überstunden macht. Dann taumeln ihre Sätze über die Lippen wie: "Meine Erinnerung habe ich danach im Kühlschrank gewählt."
"Bitte?"
"Was habe ich gerade gesagt?"
"Ich bin nicht sicher."
"Hörst Du mir eigentlich nicht zu? Wenn Du weghörst, ist es doch schöner daß der Tag nachgeht."
Und schon läßt sie mich wieder allein mit ihren rätselhaften Verkündigungen. Einige Linguisten behaupten, so hatte sie mir mal erklärt, für den Umstand, daß wir mühelos selbst solche Sätze produzieren, die wir zuvor nie gehört haben können, und die fast unbegrenzte Anzahl möglicher Wortkombinationen lasse nur einen Schluß zu: Wir würden Sprache nicht lernen, sondern Grammatik sei uns angeboren. "Bei mir ist vielleicht die Grammatik noch wach, während in den rationalen Bereichen, der Sprachverarbeitung, schon die Lichter aus sind. Aber... naja... mit einem Würfel würd's auch gehen."
Halbehalbe
Es war kurz nach acht, als wir zögernd und ein wenig benommen von der langen Fahrt auf die Freitreppe des Bahnhofs hinaustraten. Die Sonne gab sich südländisch. Nur die Lufttemperatur spielte nicht mit. Einheimische schoben sich mit ihren Koffern zielstrebig an uns vorbei. Besucher der Stadt reihten sich vor dem Schalter des Touristik-Büros. Während sie sich die Adressen von Hotels und Pensionen geben ließen, standen wir leicht fröstelnd am Anfang unseres Urlaubs, sahen auf eine Brücke, auf Wasser, angestaubte Prachtbauten in blassen Farben, auf geringe Mengen Fußweg - und fühlten. "Ich fühle mich etwas ungläubig", verkündete Silla. Genauso war's.
Alle verhielten sich so, wie es in den üblichen Reisebeschreibungen nachzulesen ist, die Stadt eingeschlossen. Doch etwas an dieser Ankunft war anders, als wir es von fremden Städten gewohnt waren. Gewöhnlich stolperte man nach dem Verlassen des Bahnhofes nicht unvermittelt in eine dreidimensionale Postkarte. Aber das war es nicht. Es fehlte etwas. Wir gingen, unnötig vorsichtig, über den Bahnhofsvorplatz bis zum Rand des Canal Grande und sahen nach, ob auf dem Wasser Gondeln schwammen. Doch auch diese Feststellung befreite uns nicht von einem leichten Anflug von Argwohn. Etwas fehlte! Etwas, das uns so vertraut und alltäglich war, daß wir seine Existenz nicht mehr bewusst wahrnahmen. Etwas so Selbstverständliches wie...
"Zebrastreifen!", stellte Silla fest. "Diese Stadt weist einen bedenklichen Mangel an Zebrastreifen auf. Ob das so richtig ist?"
"Das wird schon seine Richtigkeit haben, denke ich mir. Sieh mal, die Autos und Straßen..."
"Welche?"
"Eben! Sie fehlen auch."
"Mir nicht", verkündete Silla, mit geschlossenen Augen in die blasse Sonne lächelnd und sich reckend. "Es ist leiser, weniger hektisch, ohne Abgaswolken... ich könnte mich dran gewöhnen, glaube ich."
Die halbe Stadt war Fußgängerzone, die andere Hälfte Wasser.
Wo denn wohl?
Wir wußten noch nicht, wo wir die Nacht über bleiben würden, aber es gab Wichtigeres. Erstmal wurde gestaunt.
Wer mit Kindern reist, weiß, daß vor aller Vernunft und Überlegung das Staunen kommt. Ich reiste mit Silla.
Silla war Kind, so wie einige Frauen manchmal noch Kind sein können, mit dem, was sie sich bewahrt hatten oder was sie auch nur für kindlich hielten. Vielleicht ist auch in jedem Menschen ein Kind, daß zum Spielen herausgealssen werden möchte, sich aber meist vor den Erwachsenen draußen versteckt. Silla war Kind. - Und gleichzeitig war sie Frau.
Inmitten aller kindlicher Lebensfreude und Albernheit konnte sie manchmal innehalten und fordernd fragen "Du hast doch hoffentlich Freude an mir..." Aber das war gar keine Frage. Sie brachte damit nur Selbstverständliches zum Ausdruck. - Wir hatten beide Spaß daran.
Jetzt staunte sie.
"Siehst du das - ich meine - siehst du das alles? Was denkst du denn, wo wir sind? Na wo denn wohl? Weißt du's?"
Ich behauptete es zu wissen, aber das schien ihr nichts auszumachen.
"...und das Schlauchboot haben wir auch vergessen. Oder hast du's etwa eingepackt? Nein, hast du nicht. Natürlich nicht. Dabei hab' ich extra noch gesagt bekommen, wir sollen das Schlauchboot nicht vergessen. Wegen der Überschwemmlichkeiten, die hier immer sind. Das hat Tant' Metha - die gute Seele - mir noch von ihrem Krankenlager...die Frau kennt sich ja aus inne Welt, unser' Tant' Metha. Tag und Nacht hat sie an der Nähmaschine gesessen und uns aus alten Fahrradschläuchen das schöne schwarze Schlauchboot... und was machst du? Wenn du wenigstens nur nichts tätest. Aber du vergißt alles. Hach! Was, wenn jetzt die Überschwemmlichkeiten... wenn die Fluten steigen, die Brandung tobt...?"
Aber es gab keine Überschwemmung. Wenn ein Motorboot vorbeituckerte, schwappte das Wasser melancholisch gegen die Mauern, Stufen und Hauswände. Ansonsten verhielt es sich gesittet.
Der verbale Sturzbach, in dem sich Sillas Staunen ergoß, war größtenteils Phantasie, ebenso wie die komplette Tante Metha. Es gab sie nicht. Nur in unseren Briefen aneinander tauchte sie hin und wieder auf, meist in beschädigtem Zustand, aber hartnäckig, wie alte Leute nunmal sind.
Versittete Rotten
"Silla, mein liebes Kind", fiel ich ihr schließlich ins Geplauder. "Hältst du es nicht für angebracht, wenn wir uns erstmal nach einem angemessenen Quartier umtun?"
"Da lausch doch mal einer, wie fein du reden kannst. Mit Samt in der Stimme und jedes Wort verbrämt mit Brüssler Spitze. Damenunterbekleidung - alles aussteigen! Aber in Wahrheit denkst du nur daran, wie du mich armes, anständiges Geschöpf in ein düsteres Stundenhotel zwischen lasterhafte Laken locken und entehren kannst. Das empört mich. Versittete Rotten wohin man sieht. Schäm' dir eins."
Und weiter: "Tant' Metha hat mich noch gefragt »Wer ist denn überhaupt dieser Mensch? Was kann er, was macht er?...« »Hoffentlich das was er kann«, warf ich ein, ohne sie damit im Geringsten aus dem Konzept bringen zu können. »Hat er Familie und wenn ja, woher? Was weißt Du überhaupt über ihn?« »Nichts«, mußte ich gestehen. Darauf sortierte sie eine Weile schweigend die Schätze ihrer Lebenserfahrung und sprach dann schwer ausatmend: »Ist vielleicht auch besser so. Nimm noch von dem Butterkuchen, Kind. Is noch genuch da von!«"
"Weißt du's", begann sie kurz darauf in anderer Rolle wieder, "ich habe mich ja schon gut informiert. Wir sollten rechts gehen, ins Cannaregio. Das ist zwar etwas abgelegen, aber dafür günstiger." Was sie jetzt so schlicht unter "informieren" zusammenfaßte, hatte sich daheim in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung so dargestellt, daß sie tagelang zwischen Reiseführern und Bildbänden auf dem Fußboden saß, las, Zettel zwischen die Seiten legte, mit verschiedenfarbigen Buntstiften Notizen machte, mir von ihren Entdeckungen berichtete oder mir Bilder entgegenstreckte - wobei es ihr völlig gleichgültig war, in welchem Winkel sie das Buch hielt, gern auch verkehrt herum - und verlangte: "Siehma, da müssen wir hin!"
Wir gingen also rechts, schlenderten die Lista di Spagna entlang und spähten neugierig in die Eingangshallen mehrerer kleiner Hotels. Aber in jeder war eine Rezeption, und hinter jeder Rezeption stand ein Portier in Uniform und guckte teuer. Erst in den Seitengassen wagten wir, nach den Preisen zu fragen. Etliche Namensschilder zwischen den engstehenden Hauswänden links und rechts von uns wiesen auf Pensionen hin. Silla betrachtete nachdenklich die Häuser, die sich an diese Schilder lehnten.
"Sie sehen aber aus wie billige Absteigen im Fernsehen immer aussehen", stellte sie fest.
"Du sollst dir kein vorschnell Urteil bilden - liebste Silla - von billig kann sicher keine Rede sein." Ich behielt leider recht.
"Vielleicht können wir dich in Zahlung geben", schlug Silla vor, während sie gleichzeitig den Portier anlächelte. Er trug einen dunklen Anzug und hatte sein schwarzes Haar am Hinterkopf zu einem Zopf zusammengefaßt.
"Teuflisches Geschöpf!" zischte ich und lächelte ebenfalls.
"Warum denn nicht, du bist doch noch ganz gut erhalten. Dreißig Prozent Ermäßigung sind da sicher drin" Es blieb bei 45.000 Lire für Übernachtung mit Frühstück.
Tauchsieden
Im Zimmer roch es gediegen.
"Du kannst auch »muffig« dazu sagen", meinte Silla. Wir öffneten die Fenster, stießen die zweiteiligen Läden auf, ließen den Nebel herein und holten unsere Rucksäcke von der Gepäckaufgabe am Bahnhof.
"Kannst du eigentlich Tauchsieden?" erkundigte sich Silla, nachdem wir wieder zurück waren.
"Ich würde nämlich nie und nimmer die Nacht allein mit einem Mann verbringen, der unfähig ist, einen Tauchsieder zu bedienen."
Ich bedachte sie mit einem Blick, der strafend sein sollte und voll von gekränktem Männerstolz, aber da mir sonst keine passende Erwiderung einfiel, machte ich mich schweigend auf die Suche nach der nächsten Steckdose. Ohne Erfolg zunächst.
Während ich ratlos im Zimmer herumstand - den Tauchsieder in der einen, den Stecker in der anderen Hand und die Schnur dazwischen vor meinem Bauch baumelnd - saß Silla mit verschränkten Beinen auf dem rosa überdeckten Doppelbett und freute sich.
Es war ein prachtvolles Bett, (quietschend selbstverständlich) mit hochaufgeschwungenem Kopfteil aus Goldlack und Schnörkeln, flankiert von zwei bauchigen Nachtschränken, die ihm allerdings auf ihren krummen Beinen schätzungsweise um hundert Jahre nachhinkten. Einer von ihnen trug eine Lampe, deren Drahtschirm mit einem gefärbten Nylonstrumpf überzogen zu sein schien und daher aussah, wie ein Blumentopf beim Bankraub.
Allerdings hatte dieser Blumentopf Verbindung zur einzigen Steckdose im Raum. Um sie einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, mußte ich mich auf den Boden legen und bis zur Bettmitte robben.
"Das mit dem Tauchen klappt ja schon ganz gut", hörte ich fröhlich von oben, "aber Sieden..."
"Sitz um himmelswillen still", flehte ich, "sonst muß ich anschließend in die Dekompressionskammer."
Leider erwies sich die Steckdose als entschieden fester mit dem Stecker als mit der Wand verbunden. Ganz davon abgesehen wäre ich auch nicht bereit gewesen, zum Wasserkochen jedes Mal unters Bett zu kriechen, das, wie sich übrigens herausstellte, mit seinem antiken Kopfteil keinerlei verwandtschaftliche Beziehung unterhielt. Sie hatten nichts miteinander zu tun.
Entmutigt rief ich um Hilfe, bis Silla mich an den Beinen wieder hervorzog.
"Ein technisches Genie bist du aber auch nicht", quengelte sie.
"Das liegt nur am Strom", verteidigte ich mich. "Italienischer Strom ist ganz anders als unser heimischer, irgendwie viel zäher, grober. Es fragt sich überhaupt, ob er dem Tauchsieder nicht sogar geschadet hätte. Ich meine, diese sensible Technik verträgt ja..."
"Dummsinn!" entschied Silla, und: "Du muß' auch nich' immer gleich flunkern, wenn du mal 'was nicht' kannst."
Das war hart. Ich erhob mich, um schmollend das Zimmer zu verlassen. "Ich will nur mal eben..." Aber sie packte mich an den Ohren. "Nein, du brauchst nicht mehr nach ihnen zu suchen. Ich habe deine Ohrläppchen schon gefunden."
Dann küßte sie mich zu Boden.
Und dann stand sie nochmal auf und drehte den Schlüssel in der Tür herum....
Santa Lucia
Wir saßen auf dem Doppelbett wie auf einer rosa Insel und trieben auf ihm durchs Zimmer, nur mühsam beleuchtet vom rötlichen Licht des maskierten Blumentopfes. Was von unserem Reiseproviant übrig war, lag vor uns auf der Decke: Kekse, belegte Brote, Schokolade, Äpfel, Bananen, und dazwischen verschiedene Reiseführer und ein Stadtplan.
Vor dem Fenster sah es schon wie Nacht aus, obwohl zur Tageszeit eher ein fortgeschrittener Nachmittag gepaßt hätte. Daß wir die letzten Stunden verschlafen hatten, ließ den Tag noch mehr zusammenschrumpfen. Aber auf der Bahnfahrt über die Alpen - zu sechst in einem Abteil, dessen Heizung sich nicht abstellen ließ - war an Schlaf nur zu denken gewesen. Aus unterschiedlichen Gründen war dieser Gedanke nie zur Ausführung gelangt. Einer davon war, daß sich mit ihm die Befürchtung verband, Verona zu verpassen; Verona - die Malerische, Verona - die Stadt von Theoderich und Pippin, Verona - wo wir umsteigen mußten. Silla hatte manchmal gedöst, doch immer nur kurz. Erst wurde sie von Zöllnern geweckt, dann vom neuen Schaffner, dann wieder von Zöllnern - lauter ordentliche und ernsthafte Männer, die in ihrem Beruf aufgingen und redlich zöllnerten und schaffnerten.
Zwischen Verona und Venedig wuchtete sich irgendwann die wintermüde Sonne über den Horizont. Menschen auf dem Weg zur Arbeit bestiegen den Zug. Die Damenwelt trug trotz der Jahreszeit viel kurze Röcke, und die eintretenden Herren brachten die dazugehörigen Blicke mit. Ansonsten gab man sich fein und sah nach Büro aus. Silla verdöste dies.
Ich weckte sie, als wir über den Damm rollten, der das Festland mit den Inseln verbindet. Links Lagune, rechts Lagune, und geradeaus lag der Bahnhof. "Er heißt mit Vornamen Lucia", informierte mich meine Reiseleiterin. Sie hatte es auf der Fahrkarte gelesen. Santa Lucia, der Zug hielt, wir waren angekommen. Na also!
- pfft! -
"Kann es sein, daß das Zimmer immer kleiner wird, oder die Tapeten dicker oder so?" Silla sah um sich und schob die Unterlippe vor. "Die Wände schwellen an", konstatierte sie. "Das ist ganz normal. Wenn man zu lange in einem Raum sitzt, schwellen die Wände an, die Decke senkt sich, der Boden wölbt sich empor und schließlich wirst du - pfft! - vom Zimmer durch die Tür gespuckt." Ich war beeindruckt.
"Finß'n, was ich alles weiß?"
"Ja-ha!... Ich bin beeindruckt. Vielleicht sollten wir noch'n bißchen spazieren gehen?"
"Bischa wohl nich' recht kluch", unterstellte mir Silla. Aber das hatte nichts weiter zu sagen, es geschah nur, um zu widersprechen, denn gleich darauf band sie sich ihr Halstuch um, zog den Mantel an, legte ein zweites Tuch um die Schultern, griff die roten Wollhandschuhe, warf einen Blick auf den Stadtplan und wischte ihn dann in einem Ausbruch von Abenteuerlust vom Bett auf den Fußboden. Wer etwas entdecken will, braucht keinen Stadtplan.
Wir gingen hinunter.
Hinter der Rezeption stand jetzt eine Frau mit langem Haar, kurzem Rock und schwarz bestrumpften Beinen. Sie nahm unseren Zimmerschlüssel und lächelte.
Däffnie
Über der Lista di Spagna hingen noch Lichterketten, Reste der Weihnachtsdekoration. Über den Kanälen hing trotz der Kälte der Geruch gärenden Wassers. Die Stadt moderte sich eins. So hatten wir's gelesen. So wollten wir's haben. Venedig stinkt, sinkt, bröckelt und tut seine Pflicht als Sinnbild des Verfalls. Das ist nichts für die Nase.
Aber auch die Augen haben es nachts schwer. Der Weg zur Ponte Rialto war spärlich bestrahlt von den Glühbirnenketten und dem Licht aus Schaufenstern: Masken, Kitsch, Marmoriertes Papier; Bäckereien mit Weihnachtskuchen in Kartons wie Hutschachteln, Panetone genannt, Wände von Panetonekartons, in die Auslagen geschichtet. Doch in den Seitengassen herrschte Finsternis. Keine Laternen, keine Schaufenster, geschlossene Läden. Nur auf dem Kanalwasser spiegelte sich der Himmel.
Bei der Suche nach dem Rückweg gerieten wir in eben diese Seitengassen. Meine Erinnerung verirrte sich in einen Film, den ich mal gesehen hatte, und ich konnte es nicht lassen, ihn zu erzählen: Hallende Schritte, der Mann folgt dem Wesen im grünen Mantel, ein Kind wohl. Er verliert es aus den Augen im Gassengewirr, sieht es wieder.
"Wie hieß der Film?" wollte Silla wissen.
"'Wenn die Gondeln Trauer tragen' hieß er. Was tut denn das jetzt zur Sache? Also, er läuft, er ruft. Bambino, ruft er. Das Kind soll keine Angst haben vor ihm. Aber es rennt davon."
Modergeruch zieht zu den Brücken herauf. "Der Mann folgt ihm in ein Haus, stellt es schließlich, und als es sich umdreht - die Kamera ganz groß auf dem Gesicht..."
"Ich habe das Buch gelesen. Weißt Du, wer es geschrieben hat? Das war die Daphne, aber du mußt 'Däffnie' sagen, das ist Englisch."
"... und du mußt nicht ablenken. Wie gesagt, die Kamera ganz groß auf dem Gesicht - da ist es kein Kind, sondern ein winziger alter Mann, mit einer Fratze, so runzlig wie eine Walnuß, und..."
Um uns war es dunkel. Schritte hallten am Ende der Gasse. Sehr wohl war mir nicht.
"Henschn?"
"Ja!"
"Du sags' mir doch, wenn ich die Augen wieder aufmachen kann, nücks? Denn bei solchen Films kann ich immer nicht hinsehen, wenn die gruseligen Stellen kommen. Wenn Du's mir sags', daß ich die Hände wieder runternehmen kann..."
"Du machst was?!"
Tatsächlich tappste sie, die Hände vor den Augen, an der Kante des Kanals entlang.
"Ich finde, du klingst ein wenig panisch, mein Henschn. Du mußt keine solchen Geschichten erzählen, wenn Du's nicht verträgst, weißt Du's?"
Ich umfing sie mit beiden Armen und zog sie einen Schritt vom Wasser weg. "Du kannst wieder gucken, Silla!"
"Na hör' mal! Und der Schluß?"
"Nein!"
"Na gut!"
Erleichterung auf beiden Seiten.
Heute Abend unter der Brücke
Später im Bett, bei verlöschtem Licht, erzählten wir uns noch so einiges. Nicht den Film, nein.
"Sprichst Du eigentlich Finnisch?"
"Nur die Zahlen von Null bis Zehn. Zählt das?"
"Du solltest es sprechen", befand Silla, und ich war mir nicht sicher, ob sie meine Antwort gehört hatte. "Es enthält sehr viel Schönes."
"Was zum Beispiel?"
"Mich zum Beispiel!"
"Wie, dich?"
"Jahaa! In »Illala Sillala«. - Hast Du's gehört?"
"Illala Sillala?"
"Wenn du Finnisch sprächest, wüßtest du sowas."
"Und was heißt es."
"Was?"
"Na, Illala Sillala."
"Heute abend auf der Brücke."
"Du machst Witze!"
"Ich glaube nicht, daß Dein Finnisch ausreicht, das zu beurteilen. Die Zahlen von Null bis Zehn stellen kein ausreichendes Vokabular für den Fortgeschrittenenkurs dar."
Ich schwieg.
Silla hörte mir eine Weile zu.
Und dann sprach sie, mit müder, wohliger Stimme:
"Sprich weiter, ich kann so gut einschlafen, wenn du erzählst."
"..."
"Und wenn Du beleidigt schweigst, auch."