Mittwoch, 16. Juli 2003


Als ich um sechs aus dem Zelt krieche, strahlt die Sonne schon lange am Himmel. Mit dem wärmenden Gefühl heldenhafter Entschlossenheit wasche ich mich im Bach - Haare inklusive. Bekleidet mit gekürzter Hose, T-Shirt, Kappe und reichlich Sonnenmilch geht es über den Bach, den Hang hinauf, einen trockenen Bachlauf entlang, zwischen Hügeln hindurch... Schließlich ist der Blick frei ins Tal, aber nichts ist zu sehen vom See. Wo ist der Haugsvatn? Ein See, der auf Satelitenbildern zu erkennen ist, der sich über mehrere Kilometer erstreckt? Weg! Trotzdem mache ich mich auf den Weg dorthin, wo sein Ufer sein sollte, und erreiche es schließlich auch. Nur das Ufer! Der See fehlt. Der Haugsvatn ist auch in der Realität so rötlich-braun, wie auf dem Satelitenbild - eine Farbgebung, die mich bisher gewundert hat und die ich geneigt war, einem Programmfehler zuzuschreiben. Doch! Er sieht wirklich so aus - weil er nämlich völlig ausgetrocknet ist. Hier gibt es kein Wasser, nur rissigen Lehmboden. Wie gut, daß ich gestern nicht bis hierher gewandert bin.

Am südlichen Ausgang des Tals sehe ich schon von Weitem auf einem Hügel einen Mast. Doch die alte Telefonleitung ist außer Betrieb. Die meisten Masten liegen, vom Wetter fast weiß gebleicht, am Boden, gestürzt oder gefällt, und vom Versorgungsweg, der parallel dazu verlaufen sollte, ist nichts zu erkennen. Die Karte ist gut 60 Jahre alt und, zumindest was Anzeichen der Zivilisation betrifft, deutlich historisch. Aber neuere Karten gibt es von dieser Gegend nicht. Was es auch nicht gibt ist ein Kabel. Die verbleibenden Masten markieren einen Weg, der in gnadenloser Geradlinigkeit über die Berge führt.

In einem Tal in der Nähe der Mastenreihe gibt es endlich Wasser in Form eines Schneefeldes. Ich koche Tee, esse dazu einen Riegel Schokolade und folge dann weiter den Masten über einen 800er. Dann entdecke ich eine Piste, der ich zum auf der Karte eingezeichneten Sæluhús folge, einer Hütte für die Arbeiter, die die Leitung instand gehalten haben. Die Hütte ist verfallen, aber die Aussicht ist noch immer atemberaubend.

Nach einer kurzen Pause zum Verschnaufen und Ausschau-Halten bleibe ich immer auf der Piste. Selbst ein alter Weg ist deutlich besser, als quefeldein zu laufen. Ich mache ordentlich Strecke, komme an einer Varda und denke mir, daß eine solche Piste doch irgendwann auf eine Straße münden muß. Doch bald werden die Masten durch Markierungspfähle für ein Erdkabel abgelöst, an einem trockenen Flußbett teilt sich die Piste in mehrere schwache Spuren, die sich nach links und rechts im Sand verlaufen. Nur das Erdkabel geht geradeaus weiter und ich folge seinen Markierungen, weil ich annehme, daß es die Telefonleitung ersetzt hat. Bald wird erstes Grün und richtiges Wasser sichtbar. Und wie von Zauberhand wieder Reifenspuren hingehaucht... und wieder weggepustet.

Die Sonne steigt immer höher und scheint jetzt steil von vorne. Viel zu spät bemerke ich erst den Sonnenbrand auf Waden und Handrücken. Das Gehen wird zunehmend beschwerlich, keine Wolke ist am Himmel und wenn ich mich zur Rast umdrehe, um den Schatten des Rucksacks gegen die brennende Sonne zu nutzen, weht mir der Wind feinen Sand ins Gesicht. Aber Sitzsteine sind ohnehin selten, also passende Brocken, auf die ich mich kräftesparend setzen kann, ohne in die Knie gehen und vor allem ohne den Rucksack absetzen zu müssen, die ihn aber trotzdem von unten stützen, mich natürlich auch, und mir das Gewicht von den Schultern nehmen. Es folgt noch eine Hüpffurt - so habe ich in meinem persönlichen Klassifikationssystem Bäche getauft, die sich mit einigen Sprüngen von Stein zu Stein trocken überqueren lassen. Endlich wieder eine Gelegenheit für einen Becher Tee im Schatten der Uferböschung. Die dann folgenden Kilometer bahne ich mir mühsam durch wegloses, kniehohes Weiden- und Birkenbuschwerk. Erst in Sichtweite von Grimstağir durchschneiden schnurgerade Reifenspuren das Unterholz und führen schlielich über eine Wiese. Ich erreiche Grimstağir über einen kleinen Zeltplatz, quasi durch die Hintertür, ernte kein Erstaunen, keinen Wo-kommt-der-denn-her-Blick. Was mich ein wenig empört. Nach vier Tagen "da draußen" würde ich es passend finden, wenn mir jemand, zumindest verbal, auf die Schulter klopfte. Hinter Grimstağir sind es noch 4 km auf der Verbindungsstraße zur Nummer 1, der Ringstraße. Es ist schon 23 Uhr, als ich die Abzweigung ganz in der Nähe der Brücke über die Jökulsá á Fjöllum erreiche, aber noch immer hell und warm. Kaum bin ich dort angekommen, hält neben mir ein kleiner PKW, nicht mal gehört habe ich ihn, und mir wird eine Mitfahrt zum Mıvatn angeboten. Das ältere Paar aus Nordirland (Antrim), liefert mich direkt am Fußweg zum Zeltplatz in Reykjaliğ ab und meint, als ich von meiner Tour erzähle, wiederholt, ich müßte sehr "healthy" sein (da war's dann doch, das Schulterklopfen). Healthy! Schon möglich, nur im Moment fühle ich mich gar nicht so. Laut GPS habe ich heute 29,4 km zurückgelegt. Aber jedes GPS neigt zu Untertreibungen, da es nur die Luftlinie zwischen zwei Meßpunkten errechnet - und sich zudem den ganzen Weg tragen läßt.

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